In einer Entscheidung befasste sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit der Einhaltung von Abstandsflächen im Baurecht. Mit der Bestimmung einer Abstandsflächentiefe hat laut VGH der Gesetzgeber zugleich die Grenzen dessen festgelegt, was Nachbarn in Bezug auf die Beeinträchtigung an Besonnung, Belichtung und Belüftung zugemutet werden kann. Eine Abstandsfläche ist jedoch nicht erforderlich, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden darf und öffentlich-rechtlich gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ebenfalls an die Grenze gebaut wird.
Die von der Kanzlei Dr. Melchinger vertretene beigeladene Bauherrin beabsichtigte einen Umbau, für den ihr eine Baugenehmigung auch erteilt worden war. Gegen deren sofortige Vollziehbarkeit richtete sich das von einer Nachbarin angestrengte Verfahren. Die bestehenden Gebäude in einem eng bebauten Innenstadtbereich grenzten bereits zuvor nah aneinander, jedoch nicht in voller Höhe. Auf Höhe der Wohnung der Nachbarin befand sich bis zum Umbau ein Flachdach von 2 Metern Tiefe, daran anschließend ein ebenfalls ca. 2 Meter tiefes ganz schwach geneigtes Dach und wiederum anschließend ein ca. 2 Meter hohes Satteldach. Im Zuge des Umbaus sollten das schwach geneigte Dach und das Satteldach aufgestockt und mit Pultdach versehen werden.
Der VGH erachtete das Vorhaben als nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 LBO zulässig. Nach dieser Vorschrift sind geringere Abstandsflächen zuzulassen, wenn die Beleuchtung mit Tageslicht sowie die Belüftung in ausreichendem Maße gewährleistet bleiben, Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen und nachbarliche Belange nicht erheblich beeinträchtigt werden.
Zunächst stellte der VGH klar, dass eine Abstandsflächentiefe, die geringer ist als die nach LBO erforderliche, regelmäßig zu einer erheblichen und damit nicht mehr hinnehmbaren Beeinträchtigung des betreffenden Nachbarn führt. Dieser Abstand ist zugleich als Grenze dessen zu betrachten, was einem Grundstückseigentümer in Bezug auf Beeinträchtigung der Besonnung, Belichtung und Belüftung des eigenen Grundstücks noch zumutbar ist. Die frühere Unterscheidung zwischen einem nachbarschützenden und nicht nachbarschützenden Teil der Abstandsflächen ist bei Novellierung der LBO im Jahr 2010 entfallen.
Allerdings bedarf diese Auslegung dann einer Korrektur, wenn sich den Abstandsflächenvorschriften selbst eine andere Wertung des Gesetzgebers entnehmen lässt. So lag der Fall hier. Denn auch wenn man davon ausgeht, dass die grenznahe Aufstockung nicht schon direkt nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 LBO zulässig ist, so lässt sich aus dieser Vorschrift jedoch die gesetzgeberische Wertung entnehmen, dass die Errichtung einer baulichen Anlage direkt an der Grenze für den Nachbarn zumutbar ist, wenn gesichert ist, dass dieser seinerseits ebenfalls an die Grenze baut. In diesen Fällen ist dann nicht nur eine grenzständige, sondern auch eine grenznahe bauliche Anlage mit geringem Abstand zulässig. Denn von einer solchen gehen – abgesehen von einer in diesem Fall nicht vorliegenden „Schmutzwinkelproblematik“ – keine stärkeren Beeinträchtigungen aus. Zwar wies der Fall die Besonderheit auf, dass sich an der Grenzwand des Nachbarhauses ein genehmigtes Fenster befand. Jedoch ergab die Berechnung des Lichteinfalls, dass das Fenster weiterhin besonnt wird und ausreichend Licht erhält, zumal der Raum über ein weiteres Fenster verfügt. Auf Erhaltung der Aussicht schließlich bestand ohnehin kein Anspruch. Der Beschluss ist rechtskräftig.